Die heilige Pflicht, anderen deine Wahrheit aufzuzwingen

von Marcus Woggesin – 23. September 2025

Es ist eine uralte, edle Tradition, die leider in letzter Zeit sträflich vernachlässigt wird: die Kunst, anderen Menschen ungefragt zu erklären, was für sie richtig ist. Zum Glück gibt es noch wachsame Wächter der einzig wahren Lebensweise, die diese heilige Pflicht mit bemerkenswerter Hingabe ausüben.

Denken Sie nur an die unzähligen Möglichkeiten, die sich bieten! Ein Kollege ist tatsächlich der Ansicht, sein Projekt auf eine andere Art anzugehen? Unerhört! Schnell intervenieren Sie und führen ihm vor Augen, wie sein armseliges Konzept an Ihrer grenzenlosen Expertise zerschellt. Die Verwirrung in seinen Augen ist nicht etwa Ausdruck von Verletzung, sondern das Aufleuchten der Erkenntnis. Sie sind der Leuchtturm in seinem Meer der Inkompetenz.

Die Partnerin möchte am Wochenende einfach nur ausruhen? Eine gefährliche Fehlentscheidung! Glücklicherweise wissen Sie besser, was ihr guttut: ein straffes Fitnessprogramm kombiniert mit spiritueller Ertüchtigung. Dass ihre Müdigkeit einer Depression gleicht, ist lediglich ein Beweis dafür, wie sehr sie Ihre Führung braucht. Ihr Schmerz ist der notwendige Tribut auf dem Altar Ihrer überlegenen Einsicht.

Es ist doch so einfach: Die Welt ist ein Puzzlespiel, und Sie halten die Bildvorlage in Händen. Jeder, der sein Teil andersherum drehen möchte, sabotiert das große Ganze. Dass diese Saboteure dabei manchmal seelische Blessuren davontragen, ist ein kleines, aber akzeptables Opfer. Schließlich ist Ihr Weg nicht nur einer von vielen – er ist der einzig wahre. Und wer wollte sich schon mit der trivialen Komplexität individueller Bedürfnisse belasten, wenn man stattdessen so herrlich absolut richtig liegen kann?

Also, halten Sie sich nicht zurück. Korrigieren, belehren, dirigieren Sie. Die leisen Zweifel, die nagende Frage, ob Ihr Eingriff vielleicht mehr zerstört als aufbaut, ist nur die letzte Aufbäumung eines schlechten Gewissens. Übertönen Sie sie. Denn am Ende zählt nur die befriedigende Gewissheit: Sie tun das Richtige. Für alle. Ob alle das wollen, ist irrelevant. Sie wissen es besser. Immer.

Das ist kein Kontrollwahn, das ist reine Nächstenliebe. Mit einem Hauch von sadistischem Beigeschmack, aber der ist ja bekanntermaßen geschmacksverstärkend.