Die elektronische Patientenakte – ein trojanisches Pferd?

von Marcus Woggesin – 29. April 2025

Die elektronische Patientenakte – ein Meilenstein digitaler Gesundheitsversorgung oder ein trojanisches Pferd für unsere intimsten Informationen?

Die elektronische Patientenakte (ePA) wird derzeit wie ein Heilsbringer durch das deutsche Gesundheitssystem getragen. Politiker, Krankenkassen und viele Medien überschlagen sich mit Lobeshymnen: effizienter, transparenter, sicherer – so lauten die Schlagworte. Doch wer genauer hinsieht, erkennt schnell: Die Vorteile, die so gerne in den Vordergrund gestellt werden, sind nicht so eindeutig, wie sie scheinen. Besonders im psychotherapeutischen Bereich ist die ePA nicht nur kritisch zu betrachten – sie kann sogar regelrecht gefährlich sein.

Psychotherapie lebt von Vertrauen. Von einem sicheren Raum, in dem alles gesagt werden darf, ohne Angst vor Bewertung, Zugriff oder gar Missbrauch. Was aber passiert, wenn dieser geschützte Raum plötzlich digitalisiert wird? Wenn das, was bisher nur zwischen Therapeut und Patient ausgesprochen wurde, plötzlich in einer Akte gespeichert wird, die potenziell von mehreren Stellen eingesehen werden kann – heute oder in zehn Jahren? Es ist naiv zu glauben, dass die Versprechungen von „Freiwilligkeit“ und „vollständiger Kontrolle“ durch die Patienten in der Realität standhalten. Die meisten Menschen haben keine tiefgehenden IT-Kenntnisse, wissen kaum, wer Zugriff hat, wie lange Daten gespeichert bleiben oder wie man gezielt bestimmte Informationen wieder entfernt. Und selbst wenn: Der psychologische Druck, dem Patienten ausgesetzt sind, um „alles freizugeben“, kann subtil, aber wirkungsvoll sein.

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Die Angst. Wer weiß, dass seine tiefsten Ängste, Suizidgedanken, Traumata oder familiäre Konflikte digital abgespeichert werden könnten, wird sich vielleicht nicht mehr öffnen. Es entsteht eine neue Form der inneren Zensur. „Was, wenn das jemand liest?“ – ein Gedanke, der im Therapieprozess Gift ist. Eine Therapie funktioniert nur, wenn Menschen sich vollständig zeigen dürfen. Die ePA hingegen schürt Misstrauen, hemmt Offenheit und schafft eine Atmosphäre der Kontrolle statt der Heilung.

Natürlich gibt es medizinische Bereiche, in denen die ePA Vorteile bringt. Ein Hausarzt kann schneller auf Laborwerte zugreifen, ein Notarzt weiß sofort von Allergien. Aber man darf nicht den Fehler machen, diese Vorteile pauschal auf alle Fachbereiche zu übertragen. Psychotherapie ist kein technischer Vorgang, sondern ein zutiefst menschlicher Prozess. Die Digitalisierung darf hier nicht einfach durchgewunken werden, nur weil sie anderswo funktioniert. Es geht nicht um Effizienz – es geht um Menschlichkeit.

Wenn wir ehrlich sind, haben wir es hier mit einem Paradebeispiel blinder Digitalisierung zu tun. Statt sensibel zu prüfen, wo Technik wirklich hilft, wird ein System flächendeckend eingeführt, das im Kern nicht für alle geeignet ist. Und wieder einmal sind es die besonders verletzlichen Gruppen – psychisch Erkrankte –, die den Preis dafür zahlen. Ihre Bedürfnisse, ihre Ängste, ihre Stimme – sie bleiben im euphorischen Digitalisierungsrausch ungehört.

Deshalb braucht es eine Debatte, die sich nicht auf PR-Parolen verlässt. Wir müssen uns fragen: Wollen wir wirklich alles dokumentieren? Wollen wir den geschützten Raum der Therapie opfern, nur um Daten zentral zu verwalten? Und was ist uns wichtiger – menschliche Nähe oder digitale Kontrolle?

Die Antwort sollte klar sein. Doch solange der Mainstream schweigt, braucht es kritische Stimmen, die laut sagen: Die ePA ist kein Fortschritt für alle. Für manche ist sie ein Risiko – eines, das wir nicht ignorieren dürfen.