
Freiluft Psychiatrie Deutschland:
von Marcus Woggesin – 14. July 2025Freiluft Psychiatrie Deutschland: Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten
Deutschland verfügt über ein hoch entwickeltes, differenziertes psychiatrisches Versorgungssystem – auf dem Papier. Kliniken, Tageskliniken, therapeutische Wohngruppen und ambulante Dienste bilden ein komplexes Netz. Doch wer mit offenen Augen durch deutsche Städte geht, sieht ein anderes, erschütterndes Bild: die "Freiluft Psychiatrie". Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, oft kombiniert mit Suchtproblematiken, leben obdachlos auf Straßen, in Parks oder Bahnhöfen. Sie sind die sichtbaren Symptome eines Systems, das an seinen Schnittstellen und für seine verwundbarsten Mitglieder krachend versagt. Und es scheint, als wiederholten wir immer wieder die gleichen, unzureichenden Maßnahmen – in der Hoffnung, dass sich das Ergebnis irgendwann magisch ändert.
Das Gleiche tun: Fragmentierung und Zuständigkeitslabyrinth
Das Kernproblem ist altbekannt und dennoch chronisch:
Schnittstellen-Dilemma: Psychiatrie, Suchthilfe, Wohnungslosenhilfe, Sozialämter – alle agieren oft isoliert. Ein Mensch in der Krise braucht aber genau diese koordinierte Hilfe gleichzeitig: Therapie, Entzug, eine sichere Unterkunft, existenzsichernde Leistungen. Stattdessen: Abwälzen von Verantwortung ("Das ist nicht unser Zuständigkeitsbereich") und endlose Bürokratie.
"Revolving Door"-Effekt: Akutkliniken stabilisieren Patienten – notdürftig. Ohne nahtlose Anschlussversorgung (Betreutes Wohnen, intensive ambulante Betreuung) und vor allem ohne Wohnung landen sie schnell wieder auf der Straße. Die Spirale aus Klinikaufenthalt – Entlassung in Obdachlosigkeit – Verschlechterung – erneuter Klinikaufenthalt dreht sich unaufhörlich. Immer wieder das Gleiche.
Unterfinanzierung der Hilfen vor Ort: Niedrigschwellige Angebote wie aufsuchende Sozialarbeit ("Streetwork"), spezialisierte Tagesstätten oder akzeptierende Drogenarbeit sind chronisch unterfinanziert und personell überlastet. Sie können die Lücken des Systems nicht auffangen.
Fehlende Wohnungen als Basis: Keine Therapie, keine Suchtbehandlung kann nachhaltig wirken, wenn der Patient keinen sicheren, menschenwürdigen Schlafplatz hat. Der akute Mangel an bezahlbarem Wohnraum, besonders für Menschen mit komplexen Problemlagen, ist ein Haupttreiber der "Freiluft Psychiatrie".
Andere Ergebnisse erwarten? Die Illusion der Lösung
Trotz dieser offensichtlichen systemischen Mängel dominiert oft der kurzfristige, reparierende Ansatz:
Notunterkünfte statt Wohnraum: Statt dauerhaften Wohnraum mit Betreuung ("Housing First") zu schaffen, werden teure, oft ungeeignete Notunterkünfte im Winter geöffnet – ohne therapeutische Anbindung, manchmal sogar mit Alkoholverbot für Abhängige. Keine nachhaltige Lösung, nur eine vorübergehende Verwahrung.
Polizei statt Fachkräfte: Wenn psychisch kranke Obdachlose als "Störung" wahrgenommen werden, ist oft die Polizei die erste Anlaufstelle, nicht der Sozialdienst oder der Krisendienst. Dies kriminalisiert Krankheit und führt nicht zu Hilfe.
Symbolpolitik statt Systemreform: Einzelne Modellprojekte werden gefeiert, aber flächendeckende Strukturveränderungen und ausreichende Finanzierung der bewährten, aber unterversorgten niedrigschwelligen Hilfen bleiben aus. Das Geld fließt oft in die Akutversorgung, nicht in die Prävention und Nachsorge.
Wahnsinn überwinden: Was wirklich anders gemacht werden muss
Die Lösung liegt nicht in noch mehr der gleichen unkoordinierten Maßnahmen, sondern im radikalen Umdenken und Handeln:
Housing First – wirklich und flächendeckend: Sichere, unbefristete Wohnungen ohne Vorbedingungen (wie Abstinenz oder Therapiemitwirkung) sind die Grundvoraussetzung für jede weitere Behandlung und Stabilisierung. Das Konzept funktioniert und ist langfristig kosteneffektiv – es muss endlich Priorität haben.
Bündelung der Hilfen ("One-Stop-Shop"): Anlaufstellen, wo Betroffene alles bekommen: medizinische/psychiatrische Versorgung, Suchtberatung, Sozialhilfeanträge, Wohnungsvermittlung – unter einem Dach und ohne endlose Wege. Case Manager koordinieren individuell.
Stärkung aufsuchender Dienste: Mehr Streetworker*innen und mobile psychiatrische Teams (KTPS), die dorthin gehen, wo die Menschen sind (Straße, Parks), Vertrauen aufbauen und niedrigschwellige Hilfe leisten – als Türöffner ins reguläre System.
Verbindliche Kooperation: Gesetzliche Verpflichtung und Finanzierungsmodelle, die die Zusammenarbeit von Psychiatrie, Suchthilfe, Jugendhilfe, Wohnungsämtern und Jobcentern erzwingen und erleichtern. Schluss mit dem Zuständigkeits-Pingpong.
Ausbau spezialisierter Angebote: Mehr Plätze in betreutem Wohnen für Menschen mit Doppeldiagnosen (Psychiatrie + Sucht), spezialisierte Tagesstätten und geschützte Arbeitsmöglichkeiten.
Fazit: Vom Wahnsinn zur Vernunft
Die "Freiluft Psychiatrie" ist kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis politischer und struktureller Entscheidungen – oder deren Unterlassung. Weiterhin nur Notlösungen zu finanzieren, auf Schnittstellenprobleme zu zeigen oder obdachlose psychisch Kranke einfach nur zu verwalten, ist in der Tat wahnsinnig im Sinne des Einstein zugeschriebenen Zitats. Es ist Zeit, den Kreislauf zu durchbrechen. Es ist Zeit, die Beweise anzuerkennen (wie die Wirksamkeit von Housing First) und mutig in wirkliche Lösungen zu investieren: Wohnraum, gebündelte Hilfen und konsequente Kooperation. Nur dann kann die "Freiluft Psychiatrie" in Deutschland der Vergangenheit angehören. Alles andere ist Wahnsinn.