Psychotherapie am Limit – Wenn die Warteliste zur Utopie wird

von Marcus Woggesin – 09. August 2025

Stell dir vor, du brichst dir das Bein. Du humpelst in die Notaufnahme, und statt sofort versorgt zu werden, sagt man dir: "Tut uns leid, wir nehmen keine neuen Knochenbrüche mehr an. Vielleicht in einem halben Jahr? Wenn Sie Glück haben." Absurd, oder? Doch genau dieses Szenario spielt sich täglich ab – nicht in der Chirurgie, sondern in den Praxen von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Ein leises, aber verzweifeltes Stöhnen geht durchs Land, eine kollektive Erschöpfung, die längst nicht mehr nur die Patienten betrifft, sondern auch jene, die helfen sollen. Die Alarmglocke schrillt unüberhörbar: Immer mehr Therapeuten führen schlichtweg "keine Wartelisten mehr". Punkt. Aus. Vorbei. Das "Warten auf den Therapieplatz" – jahrelang schon ein Synonym für ein krankes System – mutiert zur schieren Unmöglichkeit.  

Es ist, als hätte man eine unsichtbare Grenze überschritten. Früher, da war die Warteliste ein quälender, aber irgendwo doch hoffnungsvoller Puffer. Man trug sich ein, bekam vielleicht eine grobe Einschätzung: "Sechs Monate, vielleicht neun." Ein Wimpernschlag im Vergleich zu dem, was jetzt Realität ist. Jetzt hört man am Telefon immer öfter diese bleierne, resignierte Stimme: "Nein, wir nehmen derzeit überhaupt niemanden mehr auf die Warte. Wir haben keine Kapazität. Bitte versuchen Sie es woanders." Und "woanders" – das ist ein schwarzes Loch. Ein Telefonmarathon ohne Landkarte, bei dem jede abgelehnte Anfrage wie ein kleiner Stich ins bereits verwundete Selbstwertgefühl wirkt. Die Suche gleicht einer Odyssee durch ein Labyrinth, dessen Ausgänge systematisch vermauert werden.  

Die Gründe sind ein vielschichtiger Albtraum, der sich seit Jahren aufbaut. Da ist der **tsunamiartige Ansturm an Hilfesuchenden** – ausgelöst durch Pandemie-Traumata, gesellschaftlichen Druck, zunehmende Entstigmatisierung (einerseits gut!), wirtschaftliche Ängste und das schiere Ausmaß unerkannter oder jahrelang vernachlässigter seelischer Nöte. Gleichzeitig kämpfen Therapeuten mit einem "bürokratischen Moloch", der ihre Zeit frisst: Akribische Dokumentationen für die Kassen, endlose Antragsverfahren für Kostengutsprachen, Rechtfertigungen für jede zusätzliche Stunde. Jede Minute, die in Formularen versinkt, ist eine Minute weniger für einen Menschen in der Krise. Und dann der **eklatante Mangel an Kassensitzen**. Jahr für Jahr scheitern tausende hochqualifizierte Psychotherapeuten in Ausbildung an der Hürde der Niederlassung, weil schlicht nicht genug Plätze finanziert werden. Es ist, als würde man Löcher in ein sinkendes Schiff stanzen und sich wundern, warum mehr Wasser eindringt.  

Die Folgen sind katastrophal – ein doppeltes Leid. Auf der einen Seite die Patienten: Menschen mit schweren Depressionen, die sich kaum aus dem Bett quälen können, müssen nun die Kraft für eine monatelange, oft demütigende Suche aufbringen. Menschen mit akuten Ängsten, die vor Panik erstarrt sind, sollen selbst aktiv werden in einem System, das sie aktiv ausschließt. Suizidgedanken warten nicht auf einen freien Termin im nächsten Quartal. Das Risiko der Chronifizierung, der Abhängigkeit von Notlösungen (oder schlimmeren Alternativen), steigt mit jedem verlorenen Tag. Auf der anderen Seite stehen die Therapeuten. Sie sehen täglich die Not, spüren die Verzweiflung am Telefon, müssen Nein sagen, obwohl ihr Berufsethos Ja schreit. "Moralische Erschöpfung und das Gefühl des systemischen Versagens" nagen an ihnen. "Ich fühle mich wie ein Türsteher vor einem überfüllten Rettungsboot, der Menschen zurück in den reißenden Strom stoßen muss," beschreibt ein Kollege die quälende Last dieser Entscheidung. Burnout ist nicht nur ein Thema ihrer Patienten, es lauert auch in den eigenen vier Praxiswänden. Die Entscheidung, die Warteliste zu schließen, ist oft der letzte verzweifelte Akt der Selbstverteidigung – gegen den eigenen Kollaps.  

Und währenddessen? Ticken die Uhren weiter. Politische Lippenbekenntnisse verhallen, Reformen wie der geplante Ausbau der psychotherapeutischen Sprechstunde sind oft nur Tropfen auf den heißen Stein oder kommen quälend langsam ins Rollen. Die Digitalisierung, Online-Therapieangebote, sind ein wichtiges Puzzleteil, aber kein Allheilmittel für komplexe, tiefgreifende Störungen. Die Lücke zwischen Bedarf und Angebot klafft nicht mehr, sie gähnt wie ein Abgrund. Das Schweigen der geschlossenen Wartelisten ist lauter als jeder Protestruf. Es ist das stille Kreischen eines Systems, das am Limit operiert – nein, das "das Limit längst überschritten hat". Es ist ein Hilferuf, der nicht nur die Politik, sondern die gesamte Gesellschaft erreichen muss. Denn seelische Gesundheit ist kein Luxus, den man auf die lange Bank schieben kann. Sie ist das Fundament, auf dem alles andere steht. Und dieses Fundament bröckelt – während wir tatenlos zusehen, wie die Rettungskräfte selbst unter der Last zusammenbrechen. Die Zeit des Wartens ist vorbei. Jetzt ist die Zeit zum dringenden, radikalen Umdenken und Handeln – bevor das System endgültig kollabiert und Menschen in ihrer tiefsten Not schlicht zurückbleiben.